Bei medizinischen Notfällen
Ansprechbarkeit überprüfen, Zustimmung einholen, Person umlagern, falls nötig.
10
Meine erste Nacht auf dem Sofa war alles andere als erquickend. Damit meine ich nicht nur die knarzenden Sprungfedern, die vielen Dellen und meine hausgemachte Phobie vor Krankheitserregern. (Ich wollte erst gar nicht wissen, wo das Sofa herkam und wie viele Sexorgien es schon miterlebt hatte.) Dass ich kaum geschlafen hatte lag vor allem daran, dass Lisette und ihr Freund – ein Pilot – lautstark übereinander hergefallen waren. Nicht einmal zwei Ohrstöpsel, zwei Kissen und eine Extradecke über meinem Kopf hatten die Geräusche ausblenden können. Als die beiden endlich fertig waren, fing die Schnarcherei an – von beiden, wohlgemerkt. Ehe ich es mich versah, war es 3:45 Uhr, und aus meinem Radiowecker plärrte – wie passend – »I’m outta Love«. Den ganzen Tag sollte mir das Lied übrigens nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Ich schlurfte ins Badezimmer, stellte die Dusche an und blinzelte in den Spiegel, während ich darauf wartete, dass das Wasser warm wurde. Die Ringe unter meinen Augen waren so groß wie die Kopfkissen in der ersten Klasse, und meine Haare sahen mal wieder aus wie ein Wischmopp. Wenn mich nicht alles täuschte, zeichnete sich auf meinem Kinn ein Pickel ab, der spätestens am Abend alle Blicke auf sich ziehen dürfte. Während ich vorsichtig unter die Dusche stieg, fragte ich mich zum tausendsten Mal, warum ich mich als geborene Spätaufsteherin immer wieder zu Frühschichten breitschlagen ließ.
Heute musste ich nur zwei kurze, dafür aber tödlich langweilige Touren nach Washington, D. C., absolvieren. Allem Anschein nach war es heute allerdings nicht sonderlich gut um meine Feinmotorik bestellt – ich schnitt mich beim Epilieren. Als perfekte Dienstleisterin, deren zweitwichtigste Aufgabe darin bestand, dafür zu sorgen, dass die Politiker und Journalisten (die vornehmlich auf diesen Kurzstreckenflügen anzutreffen waren) so schnell wie möglich in den Genuss von kochend heißem Kaffee kamen (besagte Personengruppe ist im Übrigen davon überzeugt, dies sei meine einzige Aufgabe), musste ich mir eingestehen, dass mein frühmorgendliches Handicap mit Sicherheit gegen mich arbeiten würde.
Das Gute an der Frühschicht war, dass man am frühen Nachmittag schon wieder Feierabend hatte. Sobald ich die erste Tasse der braunen Atlas-Brühe heruntergewürgt hatte, würde ich dem obligatorischen Frühflugbombencheck gewachsen sein, der mittlerweile vor jedem Abflug obligatorisch war.
Frisch geduscht, ein Handtuch um den Kopf und ein Duschtuch um den Körper gewickelt, stand ich über das Waschbecken gebeugt und spuckte gerade die Mundspülung aus, als ein blasser, leicht untersetzter und in die Jahre gekommener Mann mit schief, aber eng sitzender Unterhose die Tür aufriss und wissen wollte: »Haben Sie meinen Ring gesehen?«
Ich blicke ihn entgeistert an und spürte, wie mir die schaumige Mundspülung am Kinn herablief. »Können Sie nicht anklopfen?« Ich zog das Badetuch enger und funkelte Lisettes Psychopiloten namens Dan finster an. Schließlich war er schuld daran, dass ich kein Auge zugetan hatte.
»Haben Sie ihn nun gesehen oder nicht?«, fragte er, blickte an meiner Schulter vorbei und quetschte sich in das winzige Bad. »Ich muss gleich los. Um fünf Uhr fliege ich nach Hause, und ich kann ihn nirgends finden.«
»Dann fliegen Sie halt ohne«, sagte ich, zog das Handtuch noch ein wenig enger und blieb wie eine Steinsäule stehen. Ich sah gar nicht ein, mich von ihm herumkommandieren zu lassen.
»Würden Sie mir bitte endlich bei der Suche behilflich sein?«, schrie er und schüttelte verzweifelt den Kopf, während er sich daranmachte, meine Schminktasche zu durchwühlen. »Er ist aus Gold. Sie können ihn gar nicht übersehen.«
Ich stand da und spürte, wie meine Verwirrung ins Unermessliche stieg, während ich ihn dabei beobachtete, wie er mit meiner Wimpernzange herumhantierte. »Wieso machen Sie so einen Wirbel um Ihren Schmuck?«, fragte ich ihn, nahm ihm meinen sündhaft teuren Abdeckstift aus der Hand und starrte auf seinen wild hüpfenden Adamsapfel. Dabei vermied ich es tunlichst, seine tiefer gelegenen Körperregionen zu betrachten.
»Warum wohl? Weil es mein Ehering ist.« Er hob meinen Föhn hoch und sah darunter nach. »Wenn ich ohne ihn nach Hause komme, bringt meine Frau mich um.«
»Moment mal, Sie sind verheiratet?«, entfuhr es mir und meine Augen schossen in Richtung Schlafzimmertür. Ob Lisette davon wusste?
Ich Dummerle. Natürlich wusste sie Bescheid.
Dan blieb mir eine Antwort schuldig, zwängte sich an mir vorbei und stapfte ins Wohnzimmer. Und ich hinterher.
»Würden Sie mir jetzt endlich helfen?«, fauchte er, während er hinter eine Reihe von eingerahmten Fotos blickte, die Lisette vor den berühmtesten Wahrzeichen Frankreichs zeigten.
Wieder stand ich wie erstarrt da, während sich auf dem fleckigen Holzboden eine Wasserlache um meine Füße bildete. Fasziniert beobachtete ich, wie er verzweifelt nach dem Symbol seiner immerwährenden Liebe suchte, das er abgenommen hatte, ehe er dem Symbol seiner immerwährenden Lust den Hintern versohlt hatte. Dieser miese kleine Betrüger wollte nur seinen schlaffen Pilotenhintern retten.
Kopfschüttelnd angelte ich mir meine Uniform und brachte sie ins Badezimmer. Dieses Mal achtete ich darauf, die Tür abzuschließen.
Das Beste an Shuttle-Flügen nach Washington, D. C., waren die halbstündigen Pausen. Wir lümmelten uns in den blauen Passagierledersitzen, die wir in die Schlafposition gebracht hatten, und verdrückten die Reste des Frühstücks, als ich sagte: »So ging das die ganze Nacht.« Bei der Erinnerung daran zuckte ich hilflos die Schultern. »Ich habe kaum ein Auge zugetan, ganz zu schweigen davon, dass ich die fünf Stunden Schlaf nie wieder zurückbekomme.« Ich brach mir ein Stück von einem der steinharten Bagels ab, die wir unseren Passagieren servierten.
»Wohnt er in New York?«, wollte Clay wissen und blickte mich über den Rand seines Trinkpäckchens mit Orangensaft an. Alles im Flieger hatte Miniformat – mit Ausnahme der überdimensionierten Egos, die manche Passagiere an Bord schmuggelten.
»Nein, er pendelt zwischen New York und Atlanta, wo er Frau und Kinder hat. Mein Gott, das ist alles so niederträchtig. Und sie ist so laut«, sagte ich und nippte an meinem Kaffee.
Clays Augen leuchteten auf. »Irgendwelche speziellen Fetische? Oder nur das übliche Gestöhne?« Er beugte sich zu mir herüber, so sehr brannte er auf schlüpfrige Details.
»Na ja«, flüsterte ich, wischte mir den Mund ab und blickte mich kurz um, um mich zu vergewissern, dass kein Pilot oder Luftsherif in der Nähe war. »Sie mag es, wenn er ihr den Hintern versohlt. Dann sagt sie so etwas wie ›Genau so, Daddy, mach weiter, bis mein Arsch glüht!‹« Ich sah ihn an und prustete los.
Clays Augen weiteten sich vor Begeisterung. »Das hast du dir gerade ausgedacht!«
»Schön wär’s. Und heute Morgen, als ich im Bad war, um mich fertigzumachen, reißt der Vollidiot die Tür auf und fragt mich doch tatsächlich, ob ich seinen verfluchten Ehering gesehen habe!«
»Nein, wie nett.«
»Später habe ich ihn auf der Küchenspüle gefunden. Vermutlich muss er ihn ausziehen und sich die Hände waschen, ehe er sie windelweich klopft«, sagte ich und fischte den Goldring aus meiner Tasche.
Clay streckte die Hand danach aus. »Kein Diamant?« Er schüttelte den Kopf. »So ein Geizhals. Was hast du jetzt damit vor?«
Ich zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck Kaffee. »Du kannst ihn behalten, wenn du willst«, sagte ich und sah zu, wie er ihn sich an den Ringfinger schob.
»Er sitzt ein wenig locker, aber das lässt sich ändern.« Clay hielt die Hand in die Höhe und bewunderte ihn.
»Vielleicht ziehe ich mit ihm nach Vermont, und wir geben uns das Ja-Wort.« Er grinste verschmitzt. »Nein, jetzt mal ernsthaft. Der Ring kann uns vielleicht noch gute Dienste erweisen. Peter geht seit neuestem täglich ins Fitnesscenter. Du weißt, was das bedeutet.« Er blickte zu mir herüber und schüttelte betrübt den Kopf.
»Ich fürchte, du musst Klartext reden. Ich habe keinen blassen Schimmer, was das heißt.«
»Dass er jemanden zu beeindrucken versucht, und dieser Ring könnte genau das Richtige sein, um ihn eifersüchtig zu machen«, sagte Clay, legte die Stirn in Falten und fuchtelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.
»Das klingt ziemlich krank, wenn du mich fragst.«
»Hallo Leute, ratet mal, wer am Gate steht?« Ich blickte auf und sah, wie unsere Freundin Sydney, ihres Zeichens Chef-Flugbegleiterin, den Gang entlangeilte. Sie war die Einzige von uns Fünfzehntausend, die es tatsächlich fertigbrachte, in der Uniform eine gute Figur zu machen. Aber das war nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, dass sie knapp eins achtzig groß war, die Figur eines brasilianischen, die Gesichtszüge eines russischen und die langen, glatten blonden Haare eines schwedischen Supermodels hatte. »Ich habe gerade eine Horde Aufseher gesichtet«, berichtete sie leicht abgehetzt.
»Na super«, sagte ich und warf den trockenen Bagel in den Karton zurück, aus dem ich ihn genommen hatte.
»Was ist los?«
»Anscheinend sind sie auf dem Rückweg von einem ultrawichtigen Meeting. Jeder hat eine Kaffeetasse, auf der in schwarzen Buchstaben ›AM‹ steht.«
»Leck mich AM Arsch«, sagte Clay, drückte das leere Trinkpäckchen zusammen und nahm sich ein neues.
»So sollen wir sie ab sofort nennen. Die Abkürzung steht für Arbeitsmotivatoren.«
»Du machst Witze, oder?« Ich starrte sie entgeistert an.
Sie ließ sich auf die Armlehne des Sitzes gegenüber fallen und schüttelte den Kopf. »Die Einführung eines vertrauenswürdigen Namens ist der erste Schritt zur Schließung der Vertrauenslücke, die sich bedauerlicherweise zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgeber aufgetan hat«, zitierte sie.
»Wo hast du das denn her?« Clay brach in schallendes Gelächter aus.
»Vier von denen haben mich zur Seite genommen, als ich auf dem Weg zu Starbucks war. Sie brannten förmlich darauf, über die neue AM-Strategie zu plaudern, die uns angeblich sanftere und freundlichere Vorgesetzte bescheren wird.« Sie tippte sich theatralisch an die Stirn.
»Schließt das eine sanftere, freundlichere Umgehensweise ein?«, erkundigte ich mich.
»Nein, ihre vorrangige Aufgabe besteht nach wie vor darin, Abmahnungen in Serie zu verteilen. Aber wenn sie es als AMs tun, werden wir es ihnen nicht ganz so übelnehmen. Was ist das denn?«, wechselte sie das Thema und griff nach Clays Hand.
»Streifenhörnchen Clay hat sich mit einem unserer Piloten verlobt«, flunkerte ich.
»Und ich hab mir immer noch Hoffnungen gemacht.« Enttäuscht ließ sie seine Hand fallen und nippte an ihrem Caffé Latte. »Wie schläft es sich denn so auf der Couch?«
»Der absolute Alptraum.« Ich zuckte die Achseln.
»Jetzt sag bloß, das überrascht dich«, warf sie ein und beugte sich nach vorne, um sich ein Stück von Clays Bagel abzubrechen. »Bei Zwischenstopps ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass die jüngsten Flugbegleiter die Nachbarzimmer der Piloten zugewiesen bekommen.«
»Na ja, es ist schon eine Weile her, dass ich über den Großen Teich gedüst bin«, sagte ich, setzte den Styroporbecher an die Lippen und nahm einen Schluck. »Scheint, als wäre ich nicht mehr ganz auf der Höhe.«
»Lern ’ne Fremdsprache, dann kannst du so oft du willst nach Europa jetten.« Clay nickte. »Griechisch steht besonders hoch im Kurs.«
»Auf dem Hinflug heute habe ich dem ehemaligen Berater von Clinton, George Stephanopoulos, zwei Flaschen Wasser serviert, reicht das?« Ich musste lachen. »Ist ja auch egal, Lisette hat nämlich keine Ahnung, auf was sie sich da einlässt. Man muss sich nur ansehen, was mir widerfahren ist. Schlimm genug, dass ich ein paar Tage mit Michael in demselben Hotel auf San Juan verbringen musste. Jetzt stellt euch mal vor, ich müsste auch noch mit ihm fliegen. Ich schwöre, ich werde nie, nie, nie wieder mit einem Atlasianer ausgehen. Ernsthaft. Nicht einmal mit dem Oberboss.«
»Hailey, bitte. Der Oberboss. Hast du dir den mal genau angeguckt?« Clay schüttelte sich und nahm einen Schluck Saft.
»Bereit fürs Boarding?« Ein Blick den Gang hinunter verriet mir, dass einer meiner Lieblingskollegen auf uns zukam. George war seit fast vierzig Jahren dabei und kannte alles und jeden bei Atlas. Er flirtete gerne und hatte eine leicht perverse Ader, aber wegen seines fortgeschrittenen Alters nahm ihm das niemand übel. Am meisten mochten wir an ihm, dass er uns immer aufbaute, wenn die Chefetage auf unsere Flüge gebucht war oder die Flugbehörde meinte, Testpassagiere an Bord schmuggeln zu müssen.
»Draußen wimmelt es nur so von Vorgesetzten. Achtet darauf, dass einer von euch die ganze Zeit über am Notausgang steht«, warnte er uns vor.
Heute war ich ihm endlich mal um eine Nasenlänge voraus. »Hey, George, das sind keine Vorgesetzten mehr, das sind jetzt AMs«, rief ich ihm nach, als er das Flugzeug wieder verließ.
»Diese Arsch-Maden können mich mal«, brummte er.
Ich habe noch nie verstanden, wie jemand, der eine scheußliche Polyesteruniform trägt und in der Mitte eines Flugzeugs steht, so unsichtbar sein kann. Nach nur zehn Minuten am Notausgang hatte man mir schon zweimal auf den Fuß getreten und einen widerspenstigen Kleidersack ins Schienbein gerammt. Als wäre das noch nicht genug, hätte mich um ein Haar ein Aluminiumtrolley geköpft, den ein Grobian von Passagier mit Schwung in die Gepäckablage donnern wollte.
Ich drehte mich um und erregte mit einer dezenten Handbewegung Clays Aufmerksamkeit. Dann gab ich ihm unser vereinbartes Signal – eine Kombination aus Augenverdrehen und Kopfschütteln –, was bedeutete, dass es höchste Zeit war, die Plätze zu tauschen.
In der Bordküche schenkte ich mir erst einmal einen Kaffee ein, lehnte mich gegen den Schrank mit den Getränketrolleys und tat, als behielte ich die Kabine im Auge, während ich in Wirklichkeit die aktuelle Ausgabe von People durchblätterte, die jemand freundlicherweise zurückgelassen hatte. Auf der Titelseite war ein Bild von Angelina Jolie, und ich konnte es kaum abwarten, den Artikel über sie zu lesen.
»Könnte ich eine Flasche Wasser bekommen?«
Ich blickte auf und sah eine der Vorgesetzten oder vielmehr AMs. Sie trug ein beigefarbenes Kostüm mit gigantischen Schulterpolstern, bronzefarbene Nylonstrümpfe, cremefarbene Pumps mit breiten Absätzen und einen gekräuselten Pony, der wie ein Stirnbaldachin auf und ab wippte. Ihre dunkel umrandeten Lippen formten eine dünne, verbissene Linie, und ihre Augen klebten förmlich an meiner Zeitschrift.
»Selbstverständlich«, sagte ich. Dabei lächelte ich mir das Herz aus der Brust, während ich die Zeitschrift zur Seite schob, als hätte ich nicht im Traum daran gedacht, sie zu lesen.
»Meinen Sie, ich könnte gleich zwölf Flaschen mitnehmen? Wir sind alle wahnsinnig durstig, müssen Sie wissen«, informierte sie mich, Angelina noch immer fest im Visier.
Mit meinem Vorzeigelächeln öffnete ich einen Getränketrolley. Die Tatsache, dass uns nur zwanzig Flaschen für hundertachtunddreißig Passagiere zur Verfügung standen, störte die Lady offenbar herzlich wenig. Warum auch? Schließlich gab es da draußen zwölf dehydrierte AMs, denen ich zu absolutem Gehorsam verpflichtet war. Ganz zu schweigen davon, dass sie mich beinahe bei einer Kardinalssünde erwischt hätte. Das Lesen von Zeitschriften während des Fluges – vor allem aber während Boarding, Start oder Landung – war selbstverständlich strengstens untersagt. Im Zeitalter der Fotohandys soll es bereits vorgekommen sein, dass jemand unauffällig Beweisfotos von uns gemacht und sie ins Büro des entsprechenden Vorgesetzten – ich meine natürlich AMs – geschickt hat, der dann den oder die Schuldige zu sich zitiert und abgemahnt hat.
Der Schmu mit der Namensänderung würde mich nicht hinters Licht führen. Es war hinlänglich bekannt, dass die Riege der Vorgesetzten aus ehemaligen Flugbegleitern bestand, die den täglichen Herausforderungen an Bord nicht mehr gewachsen waren, die ein Problem damit hatten, dass sie nie wussten, mit welchen Kollegen man eingeteilt war und mit welchen Passagieren man es zu tun haben würde. Diesen Menschen fehlte es an Flexibilität. Sie sehnten sich nach festen Strukturen, Regeln und Monotonie. Leider waren sie überzeugt davon, dass es auch für uns das Beste wäre. Natürlich gab es hin und wieder soziale Irrläufer mit revolutionären Träumen, die das System gerechter und menschlicher machen wollten. Aber diese Taschen-Che-Guevaras streckten spätestens nach einem halben Jahr die Waffen, weil ihr Idealismus in Scherben lag und sie an der Tyrannei in den Atlas-Büros zerbrochen waren.
Egal welchen Namen diese Vorgesetzten trugen, sie waren in meinen Augen alle gleich. Ein ganz eigener Schlag Menschen, mit denen ich niemals befreundet sein wollte.
Ich ließ die Flaschen in einer blauen Mülltüte mit Atlas-Aufdruck verschwinden, damit die Lady a) die Flaschen tragen konnte und b) die anderen Passagiere nicht den Aufstand probten. Sobald sich nämlich jemand auf den Weg zu uns in die Bordküche machte, um nach etwas zu fragen, das den anderen bislang vorenthalten geblieben war, betätigten sofort alle ihre Rufknöpfe, und ein regelrechter Ansturm auf die Bordküche entfachte.
»Bitte schön«, sagte ich, noch immer lächelnd, obwohl mein Gesicht bereits schmerzte. Ich hoffte, dass die Sache mit der Zeitschrift damit vergessen wäre und ich ohne Abmahnung in La Guardia ankäme.
Wenige Augenblicke, nachdem sie die Bordküche verlassen hatte – ich war gerade dabei, die Zeitschrift zwischen Notsitz und Wand zu schieben, um sie während des Starts zu lesen –, steckte sie abermals den Kopf herein und sagte: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mir die People ausleihe? Sie hatten doch nicht etwa vor, sie auf dem Notsitz zu lesen, oder?« Sie starrte mich mit stechendem Blick an, woraufhin mir der kalte Schweiß auf die Stirn trat.
»Ach, Sie meinen die hier?« Mit einem nervösen Lachen zog ich das Heft heraus, als handelte es sich um einen Gegenstand, zu dem ich keinerlei Beziehung hatte. »Wieso behalten Sie sie nicht gleich?«, sagte ich und hielt die Luft an, als sie die Zeitschrift in der blauen Tüte verschwinden ließ und ging.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie sich hingesetzt hatte, ließ ich mich mit einem tiefen Seufzer gegen den Getränketrolley sinken. Sanftere und freundlichere Vorgesetzte? Wohl kaum. Aber jeder hatte eben seinen Preis.
11
Ich stand vor meinem Schrank, um meine Sachen für eine dreitägige Reise zu packen, die mich sowohl ins warme Miami als auch ins kalte Missoula führte (Bikini und Cowboystiefel?), als mein Handy klingelte.
»Hailey Lane, bitte«, sagte eine tiefe Männerstimme, die ich nicht kannte.
»Am Apparat«, antwortete ich und warf eine Flasche Sonnenmilch zusammen mit einem Paar dicker Baumwollsocken in den Trolley.
»Hi. Ich heiße Dane Richards. Wir waren kürzlich auf demselben Flug.«
Entgeistert hielt ich das Telefon von meinem Ohr weg. Was konnte dieser Mann von mir wollen? Hatte Atlas etwa eine neue Kampagne zum Thema Kundenzufriedenheit ins Leben gerufen? War es jetzt schon so weit, dass uns die Passagiere auf dem Handy anriefen, um sich über den miserablen Bordservice zu beschweren?
»Wie es scheint, haben Sie einige Unterlagen vergessen, die mit meinen durcheinandergeraten sind. Um ein Haar wären sie heute ins Gerichtsarchiv gewandert. Zum Glück standen auf der ersten Seite Ihr Name und Ihre Telefonnummer.«
»Sie haben mein Manuskript?«, fragte ich, erleichtert darüber, dass es nicht für immer verloren war, und entsetzt darüber, dass er es gelesen haben könnte.
»Soll ich es Ihnen per Kurier schicken lassen? Bis spätestens fünf Uhr wäre es da.«
»Nein, ich bin für ein paar Tage nicht in der Stadt«, erklärte ich ihm. »Könnte ich es vielleicht irgendwo abholen?«
»Kommen Sie zufällig in Midtown vorbei?«, fragte er und klang, als wäre er mit den Gedanken woanders. Im Hintergrund waren jetzt Stimmen zu hören.
»Ja. Geben Sie mir einfach die Adresse, und wir sehen uns später.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, kramte ich die Schatulle hervor, in der ich all den Schmuck aufbewahrte, den Atlas mir zu tragen verbot. Wenn meine Erinnerung mich nicht trog, war Dane Richards ein ziemlich heißer Typ. Da während unseres kurzen Gesprächs außerdem die Worte Gericht und Midtown gefallen waren, wusste ich, dass es dumm wäre, diese Chance ungenutzt verstreichen zu lassen. Wenngleich es in Manhattan nur so von heißen Typen wimmelte, war es der absolute Glücksgriff, auf eine unverheiratete und nicht zu alte Sahneschnitte mit einem gutbezahlten Job zu treffen – so, als gäbe es bei dem Kauf eines bestimmten Produktes ein Gratisgeschenk dazu, aber eben nur, solange der Vorrat reicht. Die Suche nach einem unverheirateten, nicht überreifen Mann mit gutem Einkommen – der auch noch Interesse an einer dauerhaften Beziehung hatte – hatte gewisse Ähnlichkeiten mit der Suche nach dem Heiligen Gral: Jeder hatte schon mal davon gehört, doch man musste ihn erst mit eigenen Augen gesehen haben, um es zu glauben.
So kam es, dass ich meine spießigen (und unechten) Perlenohrringe gegen meine goldenen Lieblingsanhänger mit Smaragden tauschte, die ich mir in Bombay zugelegt hatte. Ich löste meinen strengen Zopf, der mir ohnehin schon wieder Kopfschmerzen bereitete, und entließ meine Löwenmähne in die Freiheit. Danach schlug ich den Bund meines dunkelblauen Rocks um, so dass er zwei Fingerbreit nach oben rutschte, und schlüpfte in meine Pumps mit Keilabsatz, die bei Atlas ganz weit oben auf der schwarzen Liste standen. Vor dem Spiegel überarbeitete ich mein Make-up, damit ich nicht wie eine strenge Oberlehrerin daherkam, sondern wie eine junge, selbstbewusste und stilsichere Flugbegleiterin. Mit einem Stoßgebet, dass ich Lawrence nicht begegnen möge, machte ich mich auf den Weg.
Vor Danes Bürogebäude angekommen, wanderte mein Blick an der Fassade des vierundvierzigstöckigen Hauses nach oben. Mit einem Mal fühlte ich mich entsetzlich winzig und wurde hypernervös. Wem wollte ich eigentlich etwas vormachen? Hier wimmelte es nur so von attraktiven, eleganten, gebildeten Frauen mit sündhaft teuren Schuhen, während ich versuchte, mit meiner Bluse aus einem Polyester-Baumwoll-Gemisch und einem leicht entflammbaren Rock Eindruck zu schinden?
Statistiken zufolgte war die durchschnittliche Amerikanerin 1,63 Meter groß und trug Kleidergröße 44. Hier in Manhattan lief es eher auf 1,77 und Größe 34 hinaus. Obwohl ich knapp drei Zentimeter größer als der Durchschnitt und weit davon entfernt war, Größe 44 zu tragen, hatte ich das Gefühl, in diesem Stadtteil so gut wie unsichtbar zu sein.
Wäre mein Leben ein Film, würde ich von Blossom von den Powerpuff Girls gespielt. Sie war charmant und quirlig und hatte eine echte Arschtreter- und Ich-rette-die-Welt-Mentalität. Aber im Vergleich zum schlanken und sinnlichen Jessica-Rabbit-Typ, von denen ich mich in dieser halsabschneiderischen Großstadt-Dating-Welt umzingelt fühlte, war sie ein Mauerblümchen.
Ich knöpfte den Blazer zu und fuhr mit dem Fahrstuhl in die achtzehnte Etage. Auf dem Weg nach oben hielt ich mir eine Standpauke, weil ich wegen dieses ominösen Dane so furchtbar aufgeregt war. Wahrscheinlich war er längst nicht so toll, wie ich annahm, und außerdem seit Ewigkeiten verheiratet. Jetzt mal ehrlich, jemand, der in allerletzter Sekunde eine Maschine besteigt und erwartet, dass alle auf ihn warten, und der noch dazu schuld daran ist, dass jemand von seinem Platz in der ersten Klasse vertrieben wird, kann nur ein elitärer Vollidiot sein, oder? Ein Mensch, um den man tunlichst einen großen Bogen machen sollte. Beim Öffnen der Fahrstuhltür war ich so weit, dass ich mir das Manuskript schnappen und so schnell wie möglich Land gewinnen wollte.
Ich trat vor den glänzenden schwarzen Empfangstresen in Form eines Viertelmondes und versuchte verzweifelt, die Aufmerksamkeit der Rezeptionistin zu erregen, die auf einem fahrbaren Bürostuhl saß, ein Headset trug und aus unerfindlichen Gründen beschlossen hatte, mich zu ignorieren.
»Hi«, sagte ich und wedelte mit der Hand, als sie davonrollte und so munter drauflosschwadronierte, dass ich mir ernsthafte Sorgen um das Mundstück ihres Headsets machte. »Entschuldigung, aber ich bin etwas in Eile. Ich habe einen Termin mit Dane Richards. Meine Name ist Hailey Lane.« Wie bestellt und nicht abgeholt stand ich da und fragte mich, ob sie auch nur ein Wort gehört hatte.
Kommentarlos rollte sie mit ihrem schicken Tippsenstuhl davon, gab etwas in den Computer ein und kniff die Augen zusammen, um besser lesen zu können. Dann griff sie in eine Schublade, holte einen dicken gelben Umschlag hervor, der mit einem großen weißen Adressaufkleber mit den Worten HAILY LAIN versehen worden war.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf den Umschlag und fühlte mich wie der letzte Trottel, weil ich meine coolsten Schuhe für jemanden angezogen hatte, der noch nicht einmal meinen Namen richtig buchstabieren konnte. Ich steckte das Kuvert in meine ohnehin schon zum Bersten gefüllte Tasche und marschierte zum Aufzug.
Sobald ich im Bus zum Flughafen saß, blätterte ich in den Seiten meines Manuskript, auf der Suche nach Kaffeeflecken, Fingerabdrücken oder sonstigen Beweisen dafür, dass meine literarischen Ergüsse die Neugierde des Anwalts geweckt hatten. Die einzigen Randbemerkungen und Eselsohren, die ich jedoch finden konnte, stammten eindeutig von mir. Anscheinend hatte die erste Seite es nicht geschafft, das Interesse des feinen Mr Richards zu wecken.
Da Rechtsverdreher für ihre Neugierde hinlänglich bekannt waren, lag somit klar auf der Hand, dass ich soeben meine erste schlechte Kritik kassiert hatte.
Trotz zwei halb leerer Getränketrolleys und vierundzwanzig abgepackter Sandwichs für hundertachtundzwanzig Mägen hatte ich den fünfstündigen Flug nach Missoula überlebt und saß in die neueste Ausgabe von Autor! vertieft auf dem Liegerad im hoteleigenen Fitnessraum. Plötzlich klingelte mein Handy. Da ich so sehr in den Artikel »Wie Sie Ihre Charaktere zum Leben erwecken« vertieft war, vergaß ich aufs Display zu blicken.
»Hailey? Bist du das?«
Na prima! Meine Mutter. Ich ließ die Zeitschrift auf den Boden segeln und stellte mich auf ein langes, emotionsgeladenes und anstrengendes Gespräch ein.
»Ich habe eine Überraschung für dich!«, quietschte sie vor Aufregung, was bei mir schlagartig ein mulmiges Gefühl in der Magengrube hervorrief.
»Aha«, sagte ich und hätte am liebsten wieder aufgelegt. Ich wollte gar nicht wissen, worum es ging.
»Ich komme nach New York! Um dich und Michael zu besuchen!«
»Oh …. das ist … großartig«, murmelte ich und starrte mich in dem gegenüberliegenden Spiegel an, während ich fieberhaft darüber nachdachte, wie ich sie davon abbringen könnte. Es ging einfach nicht, dass sie ausgerechnet jetzt nach New York kam. Nicht, bevor ich ihr von unserer Trennung erzählt hatte. Insgeheim hatte ich gehofft, es noch eine Weile hinauszögern zu können – ungefähr ein bis zwei Jahre. »Wann genau wolltest du uns denn besuchen?«
»Morgen.«
»Oh. Wow. Das ist allerdings eine Überraschung«, erwiderte ich und kramte in meinem Hirn nach einem guten Grund, warum sie unmöglich kommen konnte. »Wie lange wolltest du denn bleiben?«
»Zwei Tage und zwei Nächte«, trällerte sie.
»Was ist mit Flügen? Hast du dich schon darum gekümmert? Im Moment sind die meisten Strecken überbucht. Kann gut sein, dass es keine Plätze mehr gibt«, wollte ich ihr den Wind aus den Segeln nehmen. Nur, weil sie von meinen Privilegien profitierte, hieß das noch lange nicht, dass sie einen Platz erhielt.
»Alles längst überprüft, Kindchen. Es gibt noch genug freie Plätze. Ich wäre um drei da und habe ein Zimmer im SoHo Grand Hotel gebucht. Ich wollte euch keine Umstände bereiten.«
»Du wohnst in SoHo?«, fragte ich. Ich wusste nicht, was mich mehr überraschte, ihr unerwarteter Besuch oder dass sie sich ein Hotelzimmer genommen hatte. Schließlich gehörte meine Mutter eher zur konservativen Fraktion, die trendigen Boutiquen nichts abgewinnen konnte.
»Außerdem habe ich uns einen Tisch im Spice reserviert. Ich habe gehört, das sei zurzeit en vogue.«
Erst SoHo und jetzt das Spice … Kann es sein, dass sie zu viele Wiederholungen von Sex and the City gesehen hat? »Vermutlich musst du dich mit meiner Wenigkeit zufriedengeben«, warnte ich sie vor. »Michael fliegt im Moment so viel, dass ich ihn selbst kaum zu Gesicht bekomme.«
Ich schob ein nervöses Lachen hinterher.
»Kein Problem, dann haben wir beide endlich mal genug Zeit, um uns so richtig zu unterhalten, meinst du nicht auch? Es ist ja schon eine halbe Ewigkeit her, dass du mal hier warst. Wann genau war das eigentlich? Vor einem Jahr? Anderthalb? Für jemanden, der kostenlos fliegen kann, lässt du dich nicht sonderlich oft blicken.«
Ich saß wie erstarrt da und atmete flach durch den Mund. Nein, Hailey, den Schuh ziehst du dir nicht an. »Einverstanden«, sagte ich nach einer kurzen Pause. »Ich bin morgen um fünf zurück. Wenn es dir nichts ausmacht, zu warten, können wir gemeinsam in die Stadt fahren.«
»Mach dir keinen Stress, ich nehme mir ein Taxi und fahr schon mal vor ins Hotel. Wir können uns später dort treffen.«
»Soll ich dich auf die Stand-by-Liste setzen lassen?«, fragte ich.
»Das wäre wunderbar. Und vielleicht kannst du mich ja für die erste Klasse einbuchen, dann wäre es perfekt.«
Bei meiner Ankunft am Broadway hatte ich mich mit dem bevorstehenden Abend abgefunden: Meine Mutter würde mich mit strengem Blick mustern und zur Begrüßung so etwas wie »Aha, so trägst du dein Haar jetzt also« sagen. Dann würde sie mich höflich anlächeln und sich erkundigen, wie’s mir gehe, nur um im selben Atemzug auf den Grund ihrer Dreitausendkilometerreise zu sprechen zu kommen. Sie würde mir die Hand auf den Arm legen, sich zu mir herüberbeugen und mit verschwörerischem Unterton in der Stimme fragen: »Und, habt ihr beide endlich einen Termin festgelegt?«
Kopfschüttelnd trat ich durch die Glastüren in das schummrige Restaurant, in dem wir uns verabredet hatten, und kämpfte mich bis zur Bar vor, wo es laut und feuchtfröhlich zuging. Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich unter den vielen After-Work-Schwärmern nach meiner Mutter. Es wollte mir noch immer nicht so recht in den Kopf, dass ich sie ausgerechnet hier finden würde – unter New Yorks Trendsettern.
Ehe ich wusste, wie mir geschah, zog mich jemand in eine Gucci-Umarmung, und eine Parfümwolke von Christian Diors Addict schwebte über meinem Kopf. »Mom?«, fragte ich vorsichtig, befreite mich und suchte nach etwas Vertrautem in dem Gesicht der Person vor mir. War das noch dieselbe Frau, die mich vor knapp drei Jahrzehnten auf die Welt gebracht hatte? »Was haben Sie mit meiner Mutter gemacht?«, scherzte ich und wusste, dass ich sie wie eine Außerirdische anstarrte. Aber ich konnte einfach nicht anders.
»Wie findest du’s?«, fragte sie, grinste und drehte sich um die eigene Achse, als wäre sie auf dem Laufsteg zu Hause.
»Du siehst so … anders aus«, entfuhr es mir, während ich den platinblonden Haarschopf auf mich wirken ließ, der einst brünett gewesen war. Ich hätte schwören können, dass ihre braunen Augen auf einmal einen Stich ins Bläuliche hatten, ganz zu schweigen von den glänzenden, vollen Lippen, die früher nicht … ganz so voll gewesen waren.
»Ich habe mich ein wenig verschönern lassen«, flüsterte sie. »Na?« Mit einem straffen Lächeln wartete sie darauf, dass ich vor Freude einen Luftsprung machte.
Ich starrte sie noch immer völlig verdattert an und ließ den Blick über die glatte, gleichmäßig pigmentierte Haut und das tiefe Dekolleté gleiten, auf das ihr Oberteil den Blick freigab. »Du siehst umwerfend aus. Wirklich«, sagte ich und fragte mich insgeheim, ob ich die entscheidende Folge von The Swan verpasst hatte.
»Ich fühle mich auch umwerfend. Es ist wie ein Neubeginn. Es gibt ja so viel zu erzählen.« Als sie lächelte, entblößte sie strahlend weiße Zähne, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. »Aber vorher möchte ich, dass du meine beiden Freunde kennenlernst.«
Sie führte mich näher an die Bar, wo zwei dunkelhaarige Männer vom Typ Wall-Street-Banker warteten. »Das ist Mark«, sagte sie, zeigte auf den anthrazitfarbenen Anzugträger, der seine Krawatte mit den pinkfarbenen Tupfen in seiner rebellischen Feierabend- und Lassen-wir-es-krachen-Stimmung gelockert hatte. »Und das ist Daniel.« Sie deutete auf eine Kopie von Mark, die allerdings bereits leicht lichtes Haar hatte.
»Hi.« Ich grinste und fühlte mich wie eine verklemmte Zwölfjährige, während ich meine generalüberholte Mutter beim Flirten mit zwei Männern beobachtete, die eher in meiner Alterklasse waren.
»Wie wär’s mit einem Drink?«, fragte Mark mich.
»Was trinkst du denn?« Ich sah auf das Glas meiner Mutter.
»Apfelmartini!«, antwortete sie und klang, als wäre es nicht ihr erster.
»Ich glaube, für mich ein ganz normales Glas Weißwein«, sagte ich und setzte mich auf einen freien Barhocker in der Mitte.
»Cindy hat erzählt, dass ihr beide aus Kalifornien kommt.« Daniel lächelte.
Ich schielte zu meiner Mutter hinüber, die mir einen Blick zuwarf, aus dem ich nicht recht schlau wurde. Da ich nicht wusste, was hier vor sich ging, sondern nur, dass etwas im Busch war, hielt ich meine Antwort so vage wie möglich. »Ja, vor euch sitzt ein waschechtes Orange-County-Girl.« Ich nickte.
»Wir haben früher in einer WG zusammengelebt, bis Hailey einen Job bei einer Fluggesellschaft angenommen hat und ausgeflogen ist.« Sie nippte an ihrem Flittchenwasser und kicherte darüber, wie sie die Fakten verdreht und dennoch nicht gelogen hatte.
WG? War das ihr Ernst? Im Grunde hatte sie ja recht … trotzdem. Ich schüttelte den Kopf und staunte noch immer über ihr gebleichtes Haar voller Volumen, ihren gekonnt in Szene gesetzten Busen und das halb volle Glas Flirtbrause in ihrer Hand … Ach, du meine Güte, meine Mutter ist auf Männerfang.
Als sie ihr strahlendstes Lächeln aufsetzte, wusste ich, dass ich so schnell wie möglich aus dieser eigenartigen Nummer rausmusste, wenn ich nicht die nächsten zwanzig Jahre beim Seelenklempner auf der Couch verbringen wollte. »Sag mal, Cindy, hatten wir für heute Abend nicht einen Tisch reserviert?«, fragte ich und tippte auf das Zifferblatt der Cartier-Uhr, die sie mir zum Studienbeginn geschenkt hatte und mir zwei Jahre später wieder wegnehmen wollte, weil ich die Ausbildung abgebrochen hatte.
»Du hast recht. Wir sollten uns schleunigst auf den Weg machen«, sagte sie und spülte den Martini hinunter.
Ich bemerkte, dass Daniel und Mark ein paar Scheine auf den Tresen legten und aufstanden, als wollten sie mitkommen. »Es war sehr nett, Sie kennengelernt zu haben«, sagte ich schnell und machte eine kleine, aber unmissverständliche Geste, ehe ich meine Mutter am Ärmel zog, um dieser grässlichen Scharade ein Ende zu bereiten.
»Ich habe die beiden eingeladen, mitzukommen«, erklärte sie mit einem verträumten Lächeln. »Wir werden bestimmt viel Spaß haben.«
Ich musterte Daniel und Mark und fragte mich, welcher von beiden wohl für mich bestimmt war. Dann trottete ich hinter dem Trio her zum Hotelausgang und trat auf die Straße, wo wir ein Taxi anhielten.
Irgendwann zwischen der Linsensuppe mit Zimtaroma und dem Kardamomeis war klar, dass Cindy und Daniel sich prächtig verstanden. Das hatte zur Folge, dass mir mehr Aufmerksamkeit von Mark zuteil wurde, als mir lieb war.
»Was unternehmen wir nach dem Essen?«, fragte meine Mutter in die Runde und klang dabei wie ein rebellierender Teenager, der trotz Stubenarrest um die Häuser zog.
»Ein paar Blocks weiter hat ein neuer Club eröffnet. Wie wär’s mit Cocktails und Live Jazz?«, schlug Daniel vor, rutschte in wenig näher an sie heran und fuhr mit dem Finger über ihren Arm.
»Wenn’s euch nichts ausmacht, klinke ich mich an dieser Stelle aus«, sagte ich und schleuderte Cindy einen vielsagenden Blick entgegen.
»Die Nacht ist doch noch jung!«, protestierte sie.
»Ja, aber ich habe den ganzen Tag gearbeitet und bin ziemlich erledigt«, erwiderte ich und ließ meinen Worten zur Sicherheit ein langes Gähnen folgen.
»Na und? Ich bin auch den ganzen Tag geflogen und fühle mich großartig!« Sie strahlte.
»Du musstest dabei aber auch keine Polyesteruniform tragen und einen knapp hundert Kilo schweren Getränketrolley vor dir herschieben!« Ich schickte einen vernichtenden Blick über den Tisch.
Doch sie zuckte nur die Achseln, griff nach ihrer Handtasche, zog einen Hotelschlüssel in Form einer Plastikkarte aus ihrem Louis-Vuitton-Portemonnaie und ließ ihn über den Tisch schlittern. »Hier. Wir wohnen in Suite drei-null-sechs. Bis nachher«, sagte sie.
Wie vor den Kopf geschlagen saß ich da und spürte, wie mir die scharfen Kanten der Karte in den Handteller schnitten, während meine Mutter sich zu Daniel hinüberlehnte und wie ein Girlie kicherte, als er ihr etwas ins Ohr flüsterte.
Konsterniert riss ich meine Handtasche an mich, stand auf und stapfte in Richtung Ausgang. Dass Mark mir noch etwas nachrief, überhörte ich geflissentlich.
Wutentbrannt hastete ich den Flur entlang und spielte mit dem Gedanken, Cindy eins auszuwischen, indem ich mich in ein Taxi setzte und auch diese Nacht auf dem Sofa des Grauens verbrachte. Als ich aber die Tür aufschloss und das hübsche, saubere und stilvoll eingerichtete Hotelzimmer betrat, wurde mir klar, dass ich mir nur ins eigene Fleisch schnitt, wenn ich schmollend zu Lisette fuhr. Dafür hatte ich schon zu viel durchgemacht!
Ich schleuderte die Pumps von mir, schälte mich aus der Jeans und warf mein schwarzes Top über eine Stuhllehne. Dann ging ich ins Bad, um mich an all jenen Luxusartikeln zu erfreuen, die ich mir im echten Leben nicht leisten konnte. Nachdem ich mir das Gesicht gewaschen, mich mit der nach Zitronen duftenden Designerlotion eingecremt und das coole neue Parfüm meiner Mutter ausprobiert hatte, schlüpfte ich unter die edle Bettdecke und beobachtete den hoteleigenen Goldfisch dabei, wie er in seinem schicken, minimalistischen Glasgefängnis seine Runden drehte.
Irgendwann drehte ich mich auf die andere Seite, blickte auf die Uhr und wartete.